Völkermord im Windschatten eines Vorwands
Datum: Mittwoch, 27. November 2002 um 02:12
Thema: Weltpolitik


Nach dem Schock über die schreckliche Geiselnahme von mehreren hundert russischen Zivilisten durch tschetschenische Rebellen und das augenscheinlich wenig professionelle Eingreifen poststalinistischer Elite-Einheiten wird allerorten wieder über den ungelösten Tschetschenien-Konflikt gesprochen. Ein tragischer Erfolg der Terroristen. Sie haben ihr Ziel erreicht, die Aufmerksamkeit für ihr Volk zu erlangen. Doch wieso musste eine derartige Grausamkeit geschehen um die Welt aus ihrem Konzept des vornehmen Wegsehens zu bringen?

Seit vielen Jahren nun wehrt dieser barbarisch geführte Krieg zwischen dem abtrünnigen Tschetschenien und der einstigen Supermacht Russland. Das anfängliche westliche Interesse ist jedoch längst erloschen, was ursächlich mit fehlender Courage der Mächtigen Europas und einer effizienten Medienzensur Putins zusammenhängt. Um Russland als Freund in europäische und globale Machtzirkel integrieren zu können, wird sich eifrig in Servilität geübt. Vor allem die USA, bei denen in Sachen Moral Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen, sehen über Menschenrechtsverletzungen großzügig hinweg, solange der Rubel rollt. Auf diese Weise schaffte man schon mit China milliardenschwere ökonomische Verbindungen. Der Begriff "Menschenrechtsverletzung" ist im Falle Tschetschenien jedoch viel zu schwach. Kritische Zeitgenossen sprechen seit langem von "ethnischer Säuberung", welche im ehemaligen Jugoslawien militärische Interventionen auf humanitärer Basis seitens der NATO nach sich zogen. Natürlich kein Präzedenzfall. Wie so oft wird mit zweierlei Maß gemessen.
Selbstverständlich kann man keinen militärischen Angriff auf Russland fordern. Die Farce ist nur, dass jetzt auch diplomatische Bemühungen ausbleiben, durch politischen Druck auf Moskau den Konflikt zu entschärfen. Der humanitäre Gedanke wurde offensichtlich aufgegeben.
Nur ab und zu klingt an, dass "Differenzen" oder "differenzierte Auffassungen" über die Richtigkeit der Militäraktionen existierten. Ein Hoch auf die Meinungsfreiheit!
Doch Kritik ist weitestgehend verpönt. Schließlich wird nach der Doktrin des "Kampfes gegen den internationalen Terrorismus" gehandelt. In primitiveren Kreisen firmiert dieses Produkt als "Kampf gegen das Böse". Das Vorgehen Moskaus, Erschießungen von Schulkindern, wahllose Bombardements von Schulen, Wohnungen und Familienhäusern, das Abschneiden tschetschenischer Krankenhäuser von Arzneimittelzufuhr mit einem Kampf gegen Terrorismus zu rechtfertigen, entbehrt jedoch jeglicher Logik.
Daniel Cohn-Bendit, französischer Europa-Abgeordneter der Grünen, ist einer der wenigen, der von "europäischer Feigheit" spricht. Er befürchtet sogar, dass die Tschetschenen das "den amerikanischen Indianern vorbehaltene Schicksal" erleiden. Und der Vorwand des Völkermords ist nicht so weit hergeholt.
Es gibt bestätigte Berichte ausländischer Journalisten, welche besagen, dass reihenweise junge Tschetschenen von russischen Kommandos in Arbeitslager deportiert würden. Eine Reise ins Ungewisse und ohne Wiederkehr.
Ebenso werden regelmäßig tschetschenische Frauen von der russischen Armee entfüht und missbraucht.
Auf diese Weise wird versucht, das tschetschenische Volk zu demoralisieren. Geburten sind unter diesen Umständen nicht zu erwarten. Zu sowjetischen Zeiten zählte Tschetschenien 1,2 Mio. Einwohner. Heute sind es gerade noch 400000. Doch wie lange noch?
Festzuhalten bleibt: Auch die Tschetschenen sind keine Kinder von Traurigkeit in Sachen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Auch die Tschetschenen wollten anfangs den Krieg mit Russland, als ihnen klar gemacht wurde, dass ihnen keine Autonomie gewährt würde. Es sollte ein Krieg für Unabhängkeit werden, der eine willkommene Einladung für Moskau darstellte, endlich durchzugreifen. Ein Hintergedanke Russlands war selbstverständlich auch, die Erdölvorkommen im Kaukasus für sich in Anspruch zu nehmen. Doch nach den vielen Jahren des Krieges und ausbleibenden Erfolgen für die russische Streitmacht, wird immer deutlicher, dass es Russland nur noch darum geht das tschetschenische Volk durch gezielten Terror zu eliminieren. Dass dabei sehr viele eigene Soldaten ihr Leben lassen müssen, scheint von untergeordneter Wichtigkeit zu sein. Den Wert von Menschenleben kann man schon anhand der Kursk-Tragödie und dem Moskauer Geisel-Drama ablesen.
Europa müsste bei der Beurteilung eines klar werden: Es kämpfen keine von Geburt an verrückten Terroristen unter dem Vorwand der Befreiung ihres Volkes gegen das Großreich Russland. Vielmehr schafft der zivile und militärisch organisierte Terror seitens Moskau seit Jahren den Nährboden für tschetschenischen Hass, der sich dann zwangsläufig - so grausam es auch ist - in terroristischer Reaktion niederschlägt. Militärische Interventionen aber können nicht das Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus sein - da mögen sich erzkonservative Kräfte in martialischen Hassreden noch so sehr ereifern. Diese Strategie nämlich iniziiert genau das Gegenteil des Erwünschten. Neuer Hass wird geschürt, neuer Terror generiert, eine Gewaltspirale aufgebaut. Anstatt weiter Öl ins Feuer zu gießen, sollten die Mächtigen der "zivilisierten" westlichen Welt darüber nachdenken, ob der Gedanke des globalen Krieges gegen den "globalen Terror" wirklich ein Resultat einer scheinbaren Zivilisation sein kann. Oder ob es nicht zivilisierter und weitsichtiger wäre, die Wurzeln des Terrors zu bekämpfen.
Jene Wurzeln, für die die westliche Globalisierung täglich neuen Nährboden erzeugt. Anstatt Abermilliarden in Rüstung zu investieren, die uns letztendlich keinen Schutz garantiert, stehen wir in der Pflicht den Menschen eine lebenswerte Perspektive aufzuzeigen, die unter unserem Lebensstil leiden. Auch aus Eigeninteresse. Denn dieses Argument findet nach wie vor am meisten Gehör.






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