Vakuum in Kultur und Politik
Datum: Samstag, 08. Juni 2002 um 00:26
Thema: Probleme & Lösungen der Gesellschaft


Die jüngere politische und kulturelle Entwicklung in Deutschland steht unter Unterdruck. Alle Politik drängt in die Mitte als dem gewünschten Ort eines kulturellen Stillstandes. In der Mitte lassen sich die Menschen am einfachsten berechnen und unter innovativem Abschluss halten. Ein Kühlschrank für den Geist und die Sinne, und gläsern gemacht, weil jeder Mensch ein vermeintlicher Extremist und Feind der Gesellschaft ist, wie es jedes Kind „von Natur aus“ eigentlich ist. So domestiziert man die Menschen zum beliebig bespielbaren gesellschaftlichen Neutrum, zur kulturellen Null. Überwacht werden nicht mehr nur Autokreuzungen, sondern sicherheitshalber und der Einfachheit wegen, die gesamten modernen Kommunikationsmittel: von Webseiten bis zu E-Mails. Erziehung und Überwachung sind Synonyme geworden. Der gegenwärtige Metternich heißt SchröderStoiber.

Als bestes Mittel der Überwachung von Kulturprozessen hat sich in den letzten Jahrzehnten deren finanzielle Förderung erwiesen. Man lernte, wie man sich zu benehmen hatte, gegenüber den Geld-Verteilern in den Amtsstuben. Die Einübung des Schleimens und Kriechens produzierte schließlich eine bürokratisch perfektionierte Antragsstellerkultur, die am Ende keine Inhalte ihr Eigen nennt, sondern nur noch in der Kunst der Extraktion von Businessplänen aus Excel-Tabellen sich auskennt.

Nun bekommt man dafür die Rechnung präsentiert. Man lernt abzuwirtschaften und lernt, was es heißt, sich damit abzufinden. In dieses Kalkül passt ausgezeichnet der Aufruf des neuen Landesvorsitzenden der CDU Berlins, Christoph Stölzl, der zur Restaurierung einer „Bürgerlichkeit” aufruft und das Ehrenamt als vorzugsweise Lebensweise von Kultur anpreist. Prima.

Kultur und Politik waren sich einmal spinnefeind. Diese Feindschaft hatte ihre guten Gründe: Während das Ziel menschlicher Kultur immer schon auf eine Selbstverwirklichung und - bestimmung von Menschen im sozialen Raum – mithin auf die Entwicklung ihrer Autonomie – aus war, mag ein solcher Begriff von sozialer Individualität nicht ins Programm politischer Vier- Jahres-Bildungs-Pläne passen. Die Anpassung der Kultur an die Politik vollzieht sich heute mit den Mitteln der industrialisierten Kultur. Die kulturellen Kaltmacher und Volksbilder finden sich zur besten Sendezeit im Abendprogramm von Sat.1 bis Pro7. Stefan Raabs Pseudoaufbegehr ist momentan die Signatur dieser luftlosen Kultur. Raab saugt die vorletzten Momente des Widerstands in den Bereich des Lächerlichen und der Entmenschlichung. Das ist keine Opposition sondern die Verkleidung ihrer Anpassung.

Zu fürchten ist gegenwärtig nach dem so genannten „Krieg gegen den Terrorismus“ ein ebensolcher gegen eine explizite und damit notwendig extreme Kultur. Nur als Feind des gesellschaftlichen Stillstands ist die Kultur ein Freund einer Gesellschaft, die sich im Spiegel ansehen kann.

Martin Hufner
Quelle: neue musikzeitung Juni 2002
http://www.nmz.de/nmz/nmz2002/nmz06/leiter-hufner.shtml





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